Text von 1926

Grundsätzliches zum Fleisch

Rind, Kalb, Hammel, Lamm, Schwein; Wildbret, zahmes Kaninchen, Geflügel und wildes Federvieh.

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Soweit die Geschichte der Menschen zurückgeht, wird das Fleisch als eines der wichtigsten Nahrungsmittel betrachtet, weil es die Stoffe enthält, aus denen unser Körper zusammengesetzt ist. Bei den Mahlzeiten der Karnivoren, Fleischesser, zum Unterschied von den Vegetariern, Pflanzenessern, bildet das Fleisch stets das
Hauptgericht, weshalb die Kochkunst sich am meisten mit diesem Artikel beschäftigt und eine große Mannigfaltigkeit in schmackhaften und gesunden Speisen aus Fleisch hergestellt hat.

Man kann jedoch das beste Fleisch auch förmlich ungenießbar machen, wenn die Hausfrauen und Köchinnen keinen Begriff von den chemischen Bestandteilen des Fleisches haben, weshalb sie von denselben Kenntnis nehmen und diejenigen Veränderungen beachten müssen, welche das Fleisch durch die Einflüsse der Luft, der
Wärme und des Wassers annimmt.

Betrachten wir das Fleisch in seinem rohen Zustande, so wie solches von frisch geschlachteten Tieren gewonnen worden ist, so sieht man eine mit Blut durchdrungene Masse, aus Fasern bestehend, die, mit dünnen Häuten bekleidet, ein Zellengewebe darstellt, mit Fett durchwachsen. ·

Die Hauptbestandteile dieser Fleischmasse sind: die Fleischfasern , der Fleischsaft, das Fett, das Bindegewebe, die Sehnen und die darin verlaufenden Nerven, Blut- und Lymphgefäße mit ihrem Inhalt.

In diesem Gehalt von Fleisch sind folgende Stoffe (Nach den Chemikern Thouvenel, Fourcroy und Hatcheth): Faserstoff, Eiweiß, Leim, Nährsalze (besonders Kali und Phosphor, phosphorsaures Natron, phosphorsaures Ammonium und phosphorsaurer Kalk) und ein dem Fleisch eigenartiger Extraktivstoff

Was wir durch das Kochen des Fleisches als Fleischbrühe gewinnen, sind, mit Ausnahme des Faserstoffes und des Eiweißstoffes, alle die soeben genannten Bestandteile vereinigt und in Wasser aufgelöst. Der eigene Geruch und pikante Geschmack der Fleischbrühe ist von den im Fleisch enthaltenen Extraktivstoffen
abhängig. Die nährenden Stoffe des zubereiteten Fleisches bestehen in Gallerten und Salzen, der Faserstoff hingegen dient allein, den Magen zu füllen und ihn in Aktivität zu erhalten. Stark ausgekochtes und hierdurch seiner nährenden Bestandteile beraubtes Fleisch ist eine fast kraftlose Substanz.

Dagegen besitzt gebratenes Fleisch nicht nur den vollen Nährwert, sondern auch einen kräftigeren Geschmack als gekochtes. Denn durch die Wirkung des Feuers wird der Geschmack und Geruch des dem Fleische innewohnenden Extraktivstoffes in hohem Grade verfeinert. Da nun das Fleisch das teuerste Nahrungsmittel ist, so wird die daraus bereitete Fleischbrühe ein sehr kostspieliger Genuss den der Unbemittelte sich kaum gönnt.

Zur Ernährung eines kräftigen Arbeiters, der schwere Arbeit leisten will, gehören täglich bei gemischten angemessenen Speisen 365 g Fleisch, zu einer guten Fleischbrühe von 1/2 Liter gehören jedoch 250 g Fleisch. Ein Kranker, der unbemittelt ist und Fleischbrühe zur Stärkung genießen soll, ein wenig besitzender Ge-
nesender, dem Fleischbrühe, aber kein Suppenfleisch, sondern gebratenes Weißfleisch verordnet ist, wird nur mit den schwersten Opfern sich aus Fleisch eine gute Suppe und außerdem gebratenes Fleisch verschaffen können, und wie schwer wird es erst einem Alleinstehenden, der keine Häuslichkeit hat, nur auf fremde Hilfe bei seinen Speisebedürfnissen angewiesen ist, sich jederzeit schnell eine gute Fleischbrühe herzustellen.

Eine solche Suppe aber ist nicht nur ein Genuss, sondern sie wirkt anregend auf die Magen- und Geschmacksnerven, gibt ein Gefühl des Behagens, ein Kraftgefühl, und zwar um so mehr, je vollkommener sie ein Saftauszug (Extrakt) des Fleisches ist. ——

Da nun, abgesehen davon, dass das Fleisch in den meisten Ländern Europas, besonders in großen Städten, das teuerste Lebensmittel ist, auch die Anschaffung von frischem Fleisch oft ganz unmöglich wird, wie z. B. auf
langen Seereisen, im Kriege, auf Forscherreisen in unwirtliche Gebiete, so sind bereits im Anfang des vorigen Jahrhunderts die französischen Chemiker Proust und Parmentier darauf gekommen, die Fleischbrühe zu konzentrieren und in Form von Bouillontafeln herzustellen.

Durch Justus von Liebigs Erfindung ist Fleischextrakt ein Konsumartikel von hohem Werte geworden. In unserer Zeit ist dieser Fleischextrakt und konzentrierte Bouillon, letztere besonders in Form der bekannten
Maggi-Würfel, so leicht zu haben, dass auch weniger Bemittelte sich den Genuss einer Tasse Fleischbrühe leicht verschaffen können.

Wichtig:

Ich möchte bei der Wichtigkeit und Allgemeinheit der Fleischkost nur noch kurz angeben, welche Schäden durch dieselbe entstehen können, wenn man die Winke nicht beachtet, welche Männer der Fachwissenschaft und die Erfahrung geben.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass rohes Fleisch schwerer verdaulich ist als durch Erhitzung zubereitetes, weil der Magen ersteres weit schwerer auflöst. Eine Ausnahme macht feingeschabtes rohes Fleisch; es ist dies eine von Ärzten empfohlene kräftige Nahrung, welche nur den Nachteil, besonders für Kinder, hat, daß das rohe geschabte Fleisch Träger von Eingeweidewürmern sein kann.

Die leichtere Verdaulichkeit des gebratenen, gedämpften oder gekochten Fleisches besteht darin, dass das im Fleische enthaltene Bindegewebe, welches die einzelnen Muskelfasern zu Muskelbündeln und schließlich zu Muskeln verbindet, in Leim umgewandelt wird. Unterstützt wird diese Wirkung durch eine im Muskel vorhandene Säure.

Diese Säure tritt von selbst im toten Muskel auf, aber erst nach einiger Zeit; das ist der Grund, warum wir frisch geschlachtetes Fleisch nicht verwenden, sondern es einige Zeit liegen oder hängen lassen, um es mürbe zu machen. Wollen wir gutes saftiges Fleisch auf die Tafel bekommen, so müssen wir es beim Kochen je nach der Größe oder der Art des Stückes längere Zeit auf einer Temperatur erhalten, die nicht höher als 60 bis 70 Grad ist.

Wollen wir Fleisch längere Zeit aufbewahren, ohne daß es gesundheitsschädlich wird, so müssen wir ihm das Wasser entziehen. Es geschieht dies durch Trocknen an der Luft, durch Räuchern, durch Einsalzen oder durch Einkochen in luftdicht verschlossene Dosen. Beim Einsalzen verliert es an Nährwert.

Als ungenießbar betrachte man:

  1. Das Fleisch von Tieren, die an innerer Krankheit gestorben oder während des Absterbens getötet worden sind. Auch das Fleisch von gesunden Tieren, die infolge von erschöpfender Anstrengung gestorben sind, ist schädlich. Bei solchen Tieren ist das Fleisch entfärbt und mürbe, das Blut flüssig und schwarzrot, und die Fäulnis tritt schnell ein
  2. Das Fleisch von Tieren mit ansteckender Krankheit, die auf den Menschen übertragbar ist; hier kommen besonders in Betracht: Rotzkrankheit, Milzbrand, Tuberkulose, Wutkrankheit. Ferner darf das Fleisch Pockenkranker Tiere nicht genossen werden.
  3. Fleisch mit Parasiten, die sich im Menschen weiterentwickeln können, wie Finnen, Trichinen.
  4. Fleisch von vergifteten Tieren
  5. Fleisch von Tieren mit schweren Infektionskrankheiten, dazu gehören: Auszehrung, Krebs usw.
  6. Faules, bereits in Verwesung übergehendes Fleisch, welches um so schädlicher, je mehr die Fäulnis vorgeschritten ist, und endlich
  7. bleihaltiges Büchsenfleisch, von dem die oberste Schicht sehr oft Bleisalz enthält, wenn die Verlötung unzweckmäßig zu dick aufgetragen war. Genießbar ist von kranken Tieren nur dann das Fleisch, wenn nur Lokalleiden vorhanden waren, die keine Infektionsherde bilden, also keinen allgemeinen
    Zerstörungsprozeß zur Folge haben.

Die beste Sicherheit vor ungenießbarem Fleisch ist obligatorische Fleischschau, verbunden mit öffentlichen Schlachthäusern; wo diese nicht sind, ist doppelte Vorsicht geboten.


Dieses Rezept in:

(1926)

Lina Morgenstern (aus dem Kochbuch)

Auf etwa 800 Seiten bietet Lina Morgensterns illustriertes  Kochbuch an die 2500 Rezepte, darüber hinaus eine Kochschule mit sinnvollen Anregungen zu Kücheneinrichtung, Einkauf, Ernährung.

„Da der Geschmack der Geist der Kochkunst ist, werden diejenigen den meisten Nutzen von meinem Buche haben, welche nicht mechanisch nach den Rezepten bereiten, sondern abschmecken, prüfen und nach der gegebenen Anleitung je nach ihren Verhältnissen und Mitteln auch zu verändern verstehen.“