Text von 1926

Wildfleisch

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Was das Wildbret anbelangt, so gehört es zu der kräftig nährenden und blutbildenden Fleischgattung. Da dasselbe durchschnittlich weniger Fett hat als das Fleisch zahmer Masttiere, so ist es auch leicht verdaulich; man bereitet es aber mit Speck und Butter, um ihm den notwendigen Zusatz und Wohlgeschmack
des fetten zu geben.

Wildfleisch wird in der Tat wohlschmeckender, wenn es einige Tage lagert, am besten in frischer Luft, frei hängend. Es nimmt dann einen eigenen Wildgeschmack an, den der Feinschmecker als „Hautgout“ bezeichnet. Sein Eintreten richtet sich ganz nach der Witterung, bei wärmerem Wetter genügen meist wenige
Tage. Zur Erzeugung dieses Geschmacks soll das Wild (und Wildgeflügel) also „abhängen“; es darf aber dabei niemals und nicht im geringsten in Fäulnis übergehen, denn dann ist es mit dem feinen Wildgeschmack sofort vorbei. Übrigens bedarf das bei den Wildhändlern der Großstadt erworbene Wild eines längeren Abhängens
nur in seltenen Fällen. Wild lässt sich in gefrorenem Zustande monatelang aufbewahren, ohne an Wert und Geschmack zu leiden. Es muss aber nach erfolgtem Auftauen sehr schnell verbraucht werden, da es dann leicht in Zersetzung übergeht.

  • Der Hase muss, wenn er einen guten Braten geben soll, jung sein, wie alles andere Wild ; alt ist er trocken und zähe. Für Magenkranke darf jedes Fleisch natürlich nicht mit Beize oder Marinade oder sauren Saucen bereitet werden.
  • Das Reh gibt nur, bis es zwei Jahre alt ist, einen zarten Braten, dann wird es grobfaserig und schwer verdaulich. Die braunen Rehe haben in der Regel zarteres Fleisch als die roten, die Geißen zarteres als die Böcke. Je gebirgiger die Gegend, desto kräftiger das Fleisch. Für schwachen Magen ist das Fleisch vom einjährigen Reh, und zwar Keule oder Rücken, das beste. Die Leber vom Reh ist Kranken zu empfehlen, weil sie wenig Fett enthält.
  • Die Gemse gibt keinen guten Braten, sie ist grobfaserig und trocken. In der Kochkunst findet sie nur, weil sie eine Rarität ist, die in den wenigsten Ländern vorkommt, eine Erwähnung.
  • Vom Hirsch ist das Fleisch der Kälber und der Spießer besonders zart, die älteren Tiere haben zähes Fleisch; am besten ist Hirschfleisch im Frühling und Anfang des Sommers.
  • Zwischen dem Wildschwein und dem zahmen Schwein herrscht, obgleich beide von gleicher  Abstammung sind, ein großer Unterschied. Es wird zu dem pikantesten und zartesten Wildbret gerechnet. Das Fleisch ist, der freien, bewegten, im Walde zugebrachten Lebensart des Tieres wegen, nicht so fett und weit gesünder, als das vom zahmen Schwein. Am zartesten ist das Fleisch der Frischlinge. Am besten eignet sich der Genuss des Wildschweines im November und Dezember. Das Fleisch des einjährigen Wildschweines gibt einen guten Braten, älteres muss wie alles Wild gebeizt oder mariniert werden.
  • Ein wenig gebräuchliches Fleisch, aber zart und leicht verdaulich wie Hühner, ist das Kaninchenfleisch, das man daher weit mehr in Anwendung bringen müsste.

Dieses Rezept in:

(1926)

Lina Morgenstern (aus dem Kochbuch)

Auf etwa 800 Seiten bietet Lina Morgensterns illustriertes  Kochbuch an die 2500 Rezepte, darüber hinaus eine Kochschule mit sinnvollen Anregungen zu Kücheneinrichtung, Einkauf, Ernährung.

„Da der Geschmack der Geist der Kochkunst ist, werden diejenigen den meisten Nutzen von meinem Buche haben, welche nicht mechanisch nach den Rezepten bereiten, sondern abschmecken, prüfen und nach der gegebenen Anleitung je nach ihren Verhältnissen und Mitteln auch zu verändern verstehen.“