Text von 1926

Ernährung und Kochkunst

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Das notwendigste Studium für die Frau ist das der Ernährungsgesetze, von deren Befolgung die Gesundheit abhängt. Die Kunst, die jedes Mädchen üben soll, ist die der Speisenbereitung. Denn die Küche ist das Laboratorium der Hausfrau, in der sie täglich für die ihrer Obhut anvertrauten Angehörigen und sich selbst die Stoffe verarbeitet, die den Körper aufbauen, erneuern und kräftig erhalten, den Geist erfrischen und leistungsfähig machen sollen. Hier soll sie für die Ernährung der Familie verständnisvoll wählen, prüfen, abwägen und die Zubereitung überwachen.

Es kommt dabei nicht auf raffinierten Gaumenkitzel an, sondern auf feinen Geschmack, der alles harmonisch zusammen zu stellen,Abwechslung zu geben versteht und bei genauer Berechnung doch dafür sorgt, daß Nährendes in genügender Menge in den Speisen vorhanden sei, und daß von Genußmitteln solche angewendet werden, die, ohne Schaden zuzufügen, die Geschmacks- und Magennerven anregen und reizen, um die Eßlust zu erhöhen. Nirgends rächt es sich mehr, wenn man gedankenlos und mechanisch arbeitet, als in der Küche. Es»genügt hier nie, der Gewohnheit zu folgen oder der in der Familie herrschenden Uberlieferung, sondern es gilt, sich bewußt zu sein, warum man etwas so und nicht anders zubereiten könne, warum man so viel Zeit, nicht mehr und nicht weniger, zur Fertigstellung eines Bratens von der bestimmten Art bedarf usw.

Die Tüchtigkeit einer gut kochenden Frau besteht nicht darin, daß sie eine Anzahl erlernter Speisen vorzüglich zu bereiten verstehe, wenn sie nicht zugleich die Grundsätze von deren Zusammenstellung kennt, und daraufhin neue ersinden und zusammenstellen lernt. Gleich wie der Komponist erst auf Grund der Theorie seine Kunstwerke schafft, so muß man durch das Studium der Kochkunst, durch das Eindringen in den Geist derselben eine feste Basis für deren Ausübung gewinnen. Dieses Studium ist aber nicht so einfach, als man anzunehmen scheint. Man muß suchen, Kenntnisse zu erwerben:

  1. Von der Feuerungsanlage, dem Feuerungsmaterial und dessen bester, ausgiebigster Ausnützung
  2. Von den Nahrungs- und Genußmitteln, ihren Eigenschaften und Wirkungen, sowie ihrer mannigfachen Verwendung.
  3. Von der Mischung der Lebensmittel nach den Gesetzen der Ernährung wie nach denen des guten Geschmackes
  4. Von den Umwandlungen, welche durch das Kochen hervorgebracht werden, die, wenn wir sie unbeachtet lassen, unsere ganze Kunst zuschanden machen.
  5. Ob es gilt, den Saft und Wohlgeschmack eines bestimmten Nahrungs- oder Genußmittels in eine Flüssigkeit hinüberzuleiten oder in eine Mischung zu fügen, oder ob es gilt, in dem zuzubereitenden Gegenstand den Saft und Wohlgeschmack zusammenzuhalten.

Welche Mittel wendet man im ersteren, welche im letzteren .Falle an? Im ersteren Falle die Aufweichung des Stoffes durch allmähliche Erhitzung; Aufsetzen der Speisen mit kaltem Wasser, das wir allmählich zum Sieden bringen; im zweiten .Falle durch Einlegen des Gegenstandes in kochendes Wasser oder kochendes Fett.
Man stelle es sich nicht so leicht vor, den Grundsatz der Saftentziehung oder des Saftzusammenhaltens durchzuführen, doch lässt er sich auf fast alle Nahrungsmittel anwenden.


Dieses Rezept in:

(1926)

Lina Morgenstern (aus dem Kochbuch)

Auf etwa 800 Seiten bietet Lina Morgensterns illustriertes  Kochbuch an die 2500 Rezepte, darüber hinaus eine Kochschule mit sinnvollen Anregungen zu Kücheneinrichtung, Einkauf, Ernährung.

„Da der Geschmack der Geist der Kochkunst ist, werden diejenigen den meisten Nutzen von meinem Buche haben, welche nicht mechanisch nach den Rezepten bereiten, sondern abschmecken, prüfen und nach der gegebenen Anleitung je nach ihren Verhältnissen und Mitteln auch zu verändern verstehen.“